[archive] - [review 2011] - [bayou festival - nordstrand/erfurt]

[back]


 


bayou festival

nordstrand - erfurt

25.-26.06.2011

[anm.d.red.:
1. Bild, das; -[e]s, -er [mhd. bilde = bild, gestalt, ahd. bilidi = nachbildung, abbild; gestalt, gebilde
2. bei szenemag für gewöhnlich ohne nachbearbeitung in "reinform". keine verwendung von farb- oder sonstigen filtern, keine manipulation, what you see is what you get! evtl. zu sehende verformungen und lichteffekte entstehen ausschließlich auf grund der gegebenheiten vor ort sowie ggf. unter verwendung eines konventionellen fotoblitzes.
3. die umrandeten fotos sind mit groß-formaten hinterlegt. auf wunsch
mailen wir euch auch gerne die original-größen.]
 

wenn man sich dem christian seine bilder so anschaut, könnte man den eindruck gewinnen, es gab nur sonnenschein am bayou-wochenende... aber hört & seht selbst. danke an christian für die fotos und den bericht des (anscheinend) extrem ereignisreichen festivals:

"... Wo fang ich an? Plagende Gedanken - paradoxerweise - sind diese mit all den bunten, strahlenden Bildern doch noch zu schön nach so einem Wochenende mit dem Bayou-Festival in Erfurt. Und gerade deshalb fällt es ungemein schwer, diese zu Papier zu bringen. Denn: Wünschenswert wäre nämlich, jede noch so verschwindend geringe Begebenheit jener zwei erlesenen Tage niederzuschreiben, da am Ende alle Teile ein Ganzes ergeben werden. Und mehr als das.

Im Falle dessen, würde ich sicherlich noch bis zum Moxxom-Openair02 (nein, keine Schleichwerbung!) in knapp andernhalb Wochen vor der Röhre kauern und meine Finger wund tippen… und das wollen wir doch nicht (schließlich bedarf die restliche Technosaison meiner Schreibkraft - zumindest hier auf Szenemag…). Somit erstrebe ich folgende Zielrichtung dieses Berichtes: Effektivste Vermittlung von Festivalgeschehnissen größter Relevanz und Artikulation der Grundessenz des Ganzen.

Des Ganzen. Hier: Dem Bayou-Festival. Und da haben wir schon den Brocken, einen ziemlich großen sogar. Ein kollosaler Brocken (in meinem wirren metaphorischen Tagträumen sehe ich da z.B. einen Meteorit auf die Erde ballern…) landet auf dem Nordstrand von Erfurt, in seinem Epizentrum mutiert eine Subkultur und baut sich ihr persönliches Techno-Universum, wenn auch nur für knapp 2 Tage. In der neu erschaffenen Welt werden gängige Verhaltenskodexes und normative Lebensweisen ausgehebelt für maximale Körper- und Geistesentfaltung jedes Individuums von Mensch.

Für das Erlangen eines größeren Verständnisses meines Ausdrucks dienen nun die nächsten Abschnitte dieses Berichts (wer sich kometengroßem Verständnis erfreuen möchte, muss ein leibhaftiger Teil dieser Welt werden und all die Haupt- und Nebenkriegsschauplätze (geistig) selbst erleben). Tauchen wir somit ein - Allen Oberflächlichkeiten zum Trotz. Es geht nun in die Tiefe.

Das Bayou-Festival am Nordstrand von Erfurt. Bereits die dritte Austragung, in 2011 erstmals gestreckt auf zwei Tage. Diese auch sinnhaftig zäsiert in Tag 1 mit Live-Acts und Tag 2 mit DJ´s. Meiner Meinung nach folgerichtig, nicht nur aufgrund logistischer und organisatorischer Erleichterungen: Für den zahlenden Gast bietet der Samstag mehr die Listening-Musik und der Sonntag ist dann ausschließlich auf Tanzmusik mit entsprechendem Booking getrimmt.

Wenn wir schon (bzw. noch) bei der großformatigen Wochenendbetrachtung bzw. "-zäsur" sind: So puristisch die Auslegung der Acts jener zwei Tage, so kontrastrierend die Witterungsverhältnisse: Zeigte sich das Wetter am Samstag noch von seiner Schattenseite (bewölkter Himmel, Nieselregen, Kälte), so kamen dann aber spätestens Sonntag Vormittag all die Konträr-Erscheinungen in voller Pracht zum Vorschein: Blauer Himmel, opulente Strachus-Wolkenformationen und Sonnenschein en masse.

Chapeau Claque machten den Anfang des Live-Set-Samstages. Die halbe Stunde Verspätung im Time-Table sollte niemand gestört haben, die schön geschnittene Wiesenlandschaft war ohnehin zu diesem Zeitpunkt von nur einer heterogenen Besucheranzahl gesäumt. Dieser Faktum dem künstlerischen Anspruch einer Chapeau Claque - Formation nicht gerechtfertigt, zogen Maria Antonia Schmid mit Ihren Mannen die Show am frühen Nachmittag durch. Witz, Charme (& Mel…) und Lebenslust brachen natürlich trotzdem aus der Sängerin heraus, und zwar in dem Maße, als ob sie gar nicht mehr zu bändigen gewesen wären… Was wäre nur passiert wenn das "Vor der Bühne" wirklich voll gewesen wäre?

Aber nein, wir haben weiterhin leichten Regen; ein nie enden wollender, tieftrauer Wolkenteppich schirmt jeden Sonnenstrahl aufs Leichte vor dem Festivalbesucher ab. Und nun Mount Kimbie. Nochmal: MOUNT KIMBIE! Liebe Musikfreunde, es ist dem Anschein nach ein ganz normaler Samstag am Nordstrand: eine Menschentraube aus ein paar dutzend Köpfen steht verhalten vor der Bühne (aber was will man um diese Uhrzeit bei diesem Wetter schon erwarten…), als ob die beiden britischen Produzenten Dominic Maker und Kai Campos jedes Wochenende hier auflegen würden.

Pardon. Mount-Kimbie spielt natürlich live! Und wer kann es glauben, ein paar Stücke aus ihrem aktuellen, international hoch gefeierten Album "Crooks & Lovers" dürfen da natürlich nicht fehlen (allen voran: "Before I Move Off"). Das Duo aus Brighton und London wollen mehr als nur am Bildschirm virtuelle Knöpfe drehen, und das sieht und hört man: Schon bei diesem Act sollte jedem Gast der Mehrwert eines Live-Acts verglichen mit einem DJ-Set ins Auge bzw. Ohr gefallen sein.

Mit zahllosen akutischen Instrumenten spielten Sie ihre Tracks live ein - Improvisation sei in höchstem Maße gefordert - heraus kam eine einzigartige Mischung aus analogen und digitalen Klängen mit Anleihen bei Dubstep und Techno. Erstaunlich, mit was für einer Präzision sie die unterschiedlichsten Geräuschsamples zusammen nähten, und trotzdem - oder gerade deshalb - einen fließenden, impulsiven Klangstrom erzeugten.

Change Over. Nun war ein Mann mit Hut, Charme (& Mel… , hatten das wir heute nicht schonmal?) on Stage, mit Namen: Frivolous. Technoproduzenten eilt gerne der Ruf voraus, keine besonders guten Performer zu sein. Diesen Vorwurf braucht sich der Kanadier Daniel Gardner nicht machen zu lassen. Schlüpft er in sein Alter Ego Frivolous, dann ist nicht nur für guten Groove, sondern auch für eine extravagante Live-Show gesorgt. Gerade in der oftmals etwas unterkühlten Minimal-Szene ist das eher eine Seltenheit.

Doch das "Ganze" wird befuttert mit Seltenheiten. Und das was dieser Herr mit so fragwürdigen "Instrumenten" wie einem Küchenmesser oder Schnurtelefon in einen homogenen, beatfreudigen Techno-Mix verzaubert, gibt allen Grund zum Stirnrunzeln und vielmehr: "Kinnlade-nach-unten-klappen". Entzückend, Schmeichelnd, Verblüffend, Verzaubernd… was will man da schon groß an Worte verlieren? Ich möchte mal behaupten: Frivolous reiht sich im Bunde der vorangegangen Acts mit "Aussergewöhnlichkeits"-Prädikat ein und bestätigt schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Festivaldauer eine ehrenswerte Auslese an Künstlern für Bayou 2011. Im Fortgang des Samstag Nachmittages sollte sich da nicht viel groß ändern.

Der sympathische Guti trug die mittlerweile heitere Stimmung in den frühen Samstag Abend mit einem ebenso forcierenden, stimmungsgeladenen Mix ein.

Und plötzlich: Ein Mann mit Maskierung, was allein schon einen gespenstischen Anblick darstellte, irrte im Publikum umher. Er hatte einen Auftrag: Den Geist von Raz Ohara auf dem Festivalgelände zu befördern, in Form von Rauch von glühenden, speziellen Holzstücken in einem Topf. Allein schon die Tatsache, die Sinne des Publikums abseits von Musik und optischer Reize zu reizen, verdient größte Aufmerksamkeit.

Wenn man von Höhepunkten des Wochenendes reden möchte - meiner Meinung nach kann man das nicht - dann sollte sich Raz Ohara zweifellos in dieser Auflistung wiederfinden. Zu andersartig, entrückt, fremd war diese Musik, als dass man sie mit anderen Klängen dieses Tages vergleichen könnte. Oft musste man sich fragen, welcher Quelle gerade jener Sound entsprang. Die Klangkulisse wurde fortwährend so vielschichtig aufgetürmt, dass man deren Strukturen nur mit allergrößten Bemühungen erahnen konnte.

Mit Raz Ohara´s Setup-Konfiguration genügt ein Hauch von Atem ins Mikro, und dieser verflüchtigt sich in endlose Hall-fahnen, wenn man will, angeschmeckt mit melodiösen Klängen, und der vormals primitive, menschliche Atemhauch mutiert in eine Endlos-Spiralen-Klang-Fanfare, die nie zu enden scheint. Oben drauf werden dann immer weitere Elemente live (!) eingespielt, und am Ende ist man auf dem mittlerweile dunklen Areal des Nordstrands am Samstag Abend eingehüllt in einem wollig-warmen, großflächigemn Klangteppich.

Raz Ohara´s Grazie im Ganzen, die performativen Gestiken gekoppelt mit dieser eigenständigen Musik (sie muss fast schon etwas Überparanormales darstellen) bescheren dem Bayou-Festival eine aussergewöhnliche Athmosphäre, nach welcher es einem nur noch nach Heulen zumute sein hätte sollen, wenn da nicht noch ein final act sein Können zum besten gegeben hätte: EROBIQUE! Der Lokalmatador, der am meisten ersehnte Act des Tages.

Carsten Meyer mit seinem Alter Ego Erobique schloss Day 1 in einem finale furioso ab: Disco gepaart mit lässigen, kaltschneutzigem Lyrics von Erobique - in Deutsch versteht sich - bescherte der überschaubaren Besuchermenge genau jene Glücksmomente, für diese wir uns doch tag ein - bzw. nacht ein, nacht aus im Feierjahr ins Getümmel begeben: Kollektive Extasemomente, Wunderkerzen in der Luft, Konfetti in den Haaren, großflächige Sitzeinlagen des Publikums mit anschließendem, gemeinschaftlichen Sprung in den Stand, oder einfach tränenergreifendes Mitsingen bei dem letzten Musikstück des gesamten Tages:

Erobique - Easy. Und spätestens jetzt hinterlassen meine Finger auf den Tastaturziffern feuchtere Abdrücke… Es sind genau diese Momente, über die es eig. nicht zu schreiben lohnt, denn das Geschehene kann man nur schwer schwarz auf weiß "übersetzen". Es geht nicht zu übersetzen, man kann bzw. muss es nur selbst erleben. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nach etlichen "Zugabe"-Rufen im Chor musste der Herr aus dem Münsterland eigen kreiierte Worte in Manier einer "Stand-up-Comedy" zum Besten geben. Das nenn ich mal Improvisation. Tag 1 pasé.

Liebe Leute, Bayou sollte sich schon jetzt gelohnt haben - alle Acts enttäuschten in keinster Weise, der zahlende Gast (Tagesticket: 20 (!) Euro) kam mehr als auf seine Kosten. In Festivalzeit gerechnet, war nun noch nichtmal die Hälfte des Bayous durchschritten, der Sonntag steht noch vor der Tür. Ich beschließe nun, meine eingangs an mich gestellte Maxime - lapidar ausgedrückt: weniger schreiben - Taten folgen zu lassen. Dies tu ich mit den folgenden Absätzen:

Folgende Großkaliber erwartete den Gast ab 10 Uhr Sonntags:

10:00 - 12:00 / KALABRESE

12:00 - 13:30 / GUNJAH & KENNY LEAVEN

13:30 - 14:30 / ISOLÉE

14:30 - 16:00 / MATHIAS KADEN & DANIEL STEFANIK

16:00 - 18:00 / JAMES HOLDEN

18:00 - 20:00 / DIXON

Was will man mehr (und nicht zu vergessen: Die Sonne!)? Ich mach es kurz:

- Kalabrese spielte vor menschenleerer Tanzfläche ein gemächliches, luftiges Deep-House-Warm-Up-Set. Eine Klang-Architektur in schönster Ästhetik, war sie doch so zurückhaltend, gar introvertiert, dann aber zugleich einnehmend und erfüllend (schade um den Umstand der wenigen Zuhörer)

- Gunjah & Kenny Leaven, Gunjah Betreiber der Showboxx in Dresden, Kenny Leaven der Kopf des Festivals (?, wenn nicht, belehrt mich eines besseren… mail an szenemag).

- Isolée mit seinem neuen, auf Pampa Records (DJ Koze) erschienenen Album "Well Spent Youth" on Tour. Ohne Frage: Allein Isolée hätte man sich gut und gerne den ganzen Sonntag angehört.

- Mathias Kaden & Daniel Stefanik. Punkt. Abgehfaktor garantiert. Hr. Kaden präsentierte mit seinem Kumpanen Stefanik ein oldschooliges, funkiges House-Set. Doch wer ist hier das Schaf und wer das Pferd

- James Holden. Keiner Rede wert. Sein Set bravourös und technisch versiert wie eh und je, brachte er eine Quantum mehr Sonne in den ohnehin schon stimmungsgeladenen Platz. Mein persönliches Highlight: Actress - Maze; in voller Ausspielung (bis dato noch nirgends auf einem Dancefloor dieser Welt gehört…).

- Dixon, die gute Seele des Berliner House, wurde seinem Beinamen gerecht und beförderte die Menge in die entlegensten Winkel menschlicher Vorstellungskraft. Was für eine ehrwürdige Erscheinung, dieser Typ. Zusammen mit Kenny Leaven und sattem Abendrot brachten sie das "GANZE" zum wohl verdienten Abschluss.

 

Die Quintessenz des Ganzen: Der zahlende Gast dieses Open-Airs kam in die Gunst, ein Wochenende mit international-gefeierten, größeren und kleineren Persönlichkeiten der Elektronikmusik-Szene und folglich unterschiedlichster, aussergewöhnlichster Musikstile zu erleben, und all dass in einer sehr intimen, familiären Atmosphäre. Nur wenige Festivals können dass von sich behaupten - je nach gesetzten Ansprüchen seitens der Veranstalter - und hier wurden die Maßstäbe an Qualität und Exklusivität enorm hoch angesetzt, wenn nicht zu hoch…

Solch eine Stimmung und Wohlbefinden kann man sicherlich nur auf den wenigsten Festivals vorfinden. Ein Faktor ist auch die Besucheranzahl, welche - im Schnitt - für die Veranstalter vermutlich ungenügend tief ausfiel. Bleibt abzuwarten, in welcher Form im neuen Jahr die Weichen für Bayou gestellt werden. Aus Sicht des Gastes sollte sich das Bayou als kleines Techno-Schlaraffenland (klingt besser im Ohr als "Brocken) entpuppen, welches es allzeit in vollen Zügen zu genießen galt...

…ein Steffen Bennemann (welcher vom Gradwanderung-Open-Air angereist war), sicherlich alle Acts, und die meisten Gäste taten das sicherlich, den Stimmungslagen nach zu urteilen. Es war teilweise zu schön um wahr zu sein, und so ist es nicht verwunderlich, wenn man wehmütig und emotional angekratzt am Sonntag Abend die Heimreise antreten muss. Mit den letzten Sonnenstrahlen aus den Lautsrecherboxen ertönt: Chapeau Claque - Last Dance. Was bleibt sind Erinnerungen, und die Erkenntnis: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile.

..."

2011 by bullytm, text & pics by christian h.] - powered by STORM Urban Water H2O + ENERGY !





[top]